Niemand hat die Absicht 100 Meilen zu laufen!

Als ich vor 2 Jahren damit anfing Ausdauersport zu betreiben, wurde mir sehr schnell klar das mir Distanzen bis Marathon weder liegen noch Spaß machen. So landete ich nach einem Jahr Training in Biel zu meinen ersten 100km Lauf. Der 100km Laufklassiker schlecht hin. In Biel musste ich die Erfahrung machen, was alles geht wenn man nur will. Ab km 70 kam es mir damals vor wie bei einem Exorzismus. Danach hatte ich sofort den Gedanken im Kopf, 2016 geht es nach Berlin. Ich will mich an 100 Meilen versuche und wieder mit dem Team Alcatraz Geld gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zu sammeln.
Die Vorbereitung meines diesjährigen Laufes bzw. Spendenprojekt stand am Anfang unter keinem guten Stern. Erst verletzte ich mich Mitte April am Knie, was 5 Wochen Laufpause zur Folge hatte. Ich wollte mich aber so schnell nicht geschlagen geben und versuchte mein Lauftraining mit Schwimmen und Athletiktraining zu kompensieren. Dabei half mir der „Neue“ im Team, Max Manroth. Anfang des Jahres fanden wir zusammen, die Chemie zwischen uns passte und so kam es wie es kommen musste. Max fand toll, was Dominik und ich mit unseren Sportaktionen auf die Beine stellen. Mittlerweile ist Max aus unserem Team nicht mehr weg zu denken und wir sind sehr froh und stolz über diese Tatsache. Exakt 6 Wochen nachdem ich mein Lauftraining wiederaufgenommen hatte, musste ein Stresstest für mein Knie her. Ich lief beim 24h Lauf im Stadion Rote Erde einen 3-Fach Marathon, sprich 126km und mein Knie hielt. So hatte ich wieder den Mut, es dieses Jahr beim Mauerweglauf in Berlin doch zu versuchen. Noch 5 Wochen bis zum Start. Wenn es klappen sollte, musste Operation Brechstange her. So kam es, dass ich in einem Monat 640km lief, die durchschnittliche Länge der Trainingseinheiten betrug 40km. Dabei lief ich mental so leer, dass ich in der letzten Woche vor dem Start große Probleme hatte, 20km zu laufen. Und dann passierte der Worst Case: Magen-Darm-Grippe. Noch 3 Tage bis zum Start. So viel Arbeit umsonst?! Hinzu kam – was das schlimmste an der Sache war- unsere Spendenaktion geriet ins Wanken. Wir suchten im Vorfeld Kilometer-Paten im Freundes- und Bekanntenkreis für die 161 zu laufenden km. So viele Menschen glaubten an uns und unterstützen dieses Projekt. „Ich kann und will es nicht absagen. Ich will es zumindest versuchen. 161km, so weit bin ich bis jetzt noch nie gelaufen…“ Und dann noch in diesem Zustand. Bei dem Gedanken daran wurde mir ganz anders, deshalb blendete ich ihn auch sofort wieder aus und legt für mich die Latte bewusst noch ein Stück höher. Nämlich, du kommst nicht nur an, du läufst die 161km unter 24h und erhältst dafür den begehrten „Buckel“. Das ist eine Gürtelschnalle, die man für diese Leistung erhält. Lieber im Kopf hoch stapeln, als mit dem Gedanken an den Start gehen, du musst nur ankommen.
Motivation für dieses Himmelfahrtskommando sollten mir zwei besondere Menschen geben. Von ihnen machte ich mir jeweils ein Foto an meinen Laufschuhen. Zum einem meinen Vater, der viel zu früh diese Erde verlassen hat. Mit ihm stand ich 1984, im damaligen Ost-Teil, zum ersten Mal vor dem Brandenburger Tor. Er hat es leider nicht mehr erlebt, dass die Mauer gefallen ist. 23 Jahre später machte ich an der gleichen Stelle meiner Frau einen Heiratsantrag. Jetzt sollte ich am Samstag durch das Brandenburger Tor laufen und dabei symbolisch die Mauer erneut einreißen. Ich weiß, dass mein Vater sehr stolz und zugleich froh über diese Tatsache sein würde. Der zweite Mensch der mich begleiten sollte war Karl-Heinz Kube. Er wurde bei seinem Fluchtversuch an der Berliner Mauer 1966 erschossen. Er wurde 17 Jahre alt. An sein Schicksal – stellvertretend für das aller anderen Opfer – erinnerte am Samstag der Mauerweglauf. 100 Meilen entlang der früheren Grenze, 100 Meilen gegen das Vergessen, auf den Tag 55 Jahre nach dem Mauerbau. Wir werden an diesem schrecklichen Gedenktag etwas Gutes tun und Spenden gegen sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen sammeln. So sollte es dann auch kommen.

Dominik und Max folgten mir am Freitagabend nach Berlin. Am Abend Startnummern-Ausgabe mit anschließendem Briefing im Hotel Ramada am Alexanderplatz. Dabei wurden wir 1 Stunde lang von Hajo Palm auf den Lauf eingeschworen. Was gibt es zu Beachten. Was erwartet uns. Ich wurde auf meinem Stuhl immer kleiner. All diese Mutanten-Läufer um mich herum und ich mitten drin. Was mache ich hier nur?! An Schlaf war die Nacht nicht zu denken. Immer wieder schaute ich nachts auf die Uhr bis ich um 4 Uhr endlich erlöst wurde: Der Wecker klingelt, das Spiel beginnt.

5:30 Uhr trafen wir uns alle vor meiner gemieteten Wohnung in Berlin. ca. 300m vom Jahn Stadion entfernt. Wir machten Dominiks Fahrrad samt Anhänger startklar. Wir beiden waren uns nicht sicher wer an diesem Tag mehr leiden wird. Ich 161km Laufen oder er 161km Radfahren in Schrittgeschwindigkeit und dabei auf „The Walking Dead“ aufpassen?! Leider verschätzen wir uns bei unserer Zeitplanung, dass es mittlerweile so spät war das wir im Laufschritt zum Stadion eilten. Wir waren auf die Minute an der Startlinie. Das geht ja schon gut los, hatte ich kurz im Kopf. Dieser war aber schnell verflogen. Wir liefen durch das morgendlich ruhige Berlin an der Spree entlang Richtung Reichstag. Am Brandenburger Tor wurde eine große Mauer für uns aufgebaut, aus der jeder Läufer einen Stein nehmen sollte, um damit durch das Tor zu laufen. So sollten wir die Mauer symbolisch noch einmal fallen lassen. Das war für mich schon ein besonderer Moment gleich am Anfang. So viele Erinnerungen habe ich an den Pariser Platz. Gepuscht davon ging es jetzt Schlag auf Schlag. Check Point Charly, East Side Galerie usw. Mir wurde immer mehr bewusst, wie wichtig mir dieser Lauf ist. Viele nette Menschen durfte ich bei diesem Lauf begegnen, darunter auch Sigrid Eichinger. Eine Läuferlegende, 75 Jahre jung, sie hat dieses Jahr ihren 2.000 Marathon bzw. Ultra Marathon bestritten und läuft jetzt mit mir zusammen diesen sagenhaften Lauf. Dominik verpflegt mich die ganze Zeit vom Rad aus mit Essen, Trinken und Wechselkleidung, sodass ich an den Verpflegungspunkten nicht viel Zeit vertrödeln musste. Max verfolgte uns mit dem Auto von Verpflegungspunkt zu Verpflegungspunkt, fuhr uns mit seinem Tretroller entgegen, passte auf uns auf und konnte mir nach Bedarf die Beine massieren oder mal ein wenig Mut zusprechen. So vergingen Stunde um Stunde, mein Körper funktioniert wie ein Uhrwerk. Dabei immer im Hinterkopf, um was es hier heute für mich ging. Ab km 90 bekamen wir alle langsam unsere Probleme. Die ersten Läufer schmissen das Handtuch. Zum Glück war bei mir noch als im grünen Bereich. Das sollte sich aber auch bei mir langsam ändern. Ich bekam ein wenig Magenprobleme, was ich sonst eigentlich nie habe. Was ich sonst immer zu mir nehme sollte heute nicht funktioniert. Ich denke, dass es noch Auswirkungen meines Magen-Darm-Infektes waren. Ab km 120 ging es mir zunehmend schlechter. Mein Kopf funktionierte wie eine Eins. Mental passte alles, aber mein Körper fuhr immer mehr runter. Von km zu km viel es mir immer schwerer am Laufen zu bleiben. Dazu kam noch, dass es jetzt stockdunkel war und wir über den Todesstreifen in Potsdam liefen. Todesstreifen, irgendwie passend dachte ich mir. Die Wege sind dort so schlecht, dass man sich jeden Schritt genau überlegen muss. Und dies über Stunden im Dunkeln. Dominik hatte es dabei nicht leichter. Über diese Wege mit dem Rad inklusive Anhänger. Dafür werde ich dir ewig dankbar sein! Ab km 130 zog mir dann langsam der Schwefelgeruch in die Nase und bei km 140 war es dann soweit. DAS TOR ZUR HÖLLE GING AUF! Mein Körper fühlte sich so leer an, dieses Gefühl hatte ich noch nie. Dazu kam noch das meine GPS Uhr nicht mehr mit spielte und ich völlig den Überblick darüber verlor, ob ich es unter 24h noch schaffen konnte. Allerdings ging es meinem Kopf nach wie vor gut. Dominik rechnete km für km auf dem Rad hoch, in welchem Tempo ich weiterlaufen musste. Immer öfter viel mein Blick auf meine Schuhe, wo ich die Bilder meines Vaters und Karl Heinz Kube hatte. Nach Dominiks Berechnungen war ich gut in der Zeit, hatte sogar Zeit auf den letzten km rausgelaufen. Es war trotzdem noch weit und wer weiß, was noch passiert. Immer und immer wieder betete ich mir den Satz runter, du darfst nicht stehen bleiben, du hast die Hand schon dran, wenn du jetzt stehen bleibst, war alles um sonst. Immer wieder der Blick auf meine Schuhe, die im Licht der Stirnlampe immer nach vorne kamen. Mein Magen rebellierte auch immer mehr. Alles kam mir immer wieder hoch. Dominik achtete penibel darauf, dass ich regelmäßig trank. Dann rief meine Frau gegen 2 Uhr bei Dominik an, um zu hören, wie es mir geht. Dominik und ich redeten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr miteinander. Ich musste mich voll auf mich konzentrieren. Ich ließ mir aber das Handy geben. Ich wollte mit ihr sprechen, das hat mich letztes Jahr in Biel auch ins Ziel getragen. Und so war es jetzt auch wieder. Ich bekam wieder ein wenig Kraft nach unserm Gespräch und es ging mir besser. Jeder Läufer, der uns jetzt begegnete sah nicht mehr gut aus. Alle hatten Problem. Wir überholten jemanden, der nur noch von rechts nach links torkeltet. Auf die Frage ob alles ok bei ihm sei, sagte er nur „jo jo“. So ist das halt im Ultra Lauf Sport. Ist kein Kindergeburtstag. Das muss man wollen! Die letzten 3km waren für mich dann mit Abstand die schlimmsten. Mein Körper war so leer das ich Angst hatte, einfach umzufallen. Dabei noch den selbst auferlegten Zeitdruck im Nacken. Nicht stehen bleiben, lauf weiter, immer und immer wieder. An einem Schlußsprint im Endorphin Rausch war nicht zu denken. Da war kein Endorphin mehr! Als ich dann gemeinsam mit Dominik und Max über die Ziellinie lief, konnte ich mich noch nicht einmal mehr darüber freuen es geschafft zu haben, so leer war ich.
Was aber da war, war das WIR-Gefühl.
Ich alleine hätte das nie hinbekommen.
Wir, dass Team Alcatraz, haben es gemeinsam geschafft.
Und darauf bin ich sehr stolz!
Meine Zielzeit betrug 23:45:44 h
Platz 95 von 350 Teilnehmern
Damit holte ich mir den begehrten Buckel!